Schon von Weitem sehen wir ihn. Wie er am Horizont unserer Baumallee unter dem stahlblauem Himmel auf und nieder geht. In gebührender Distanz halten wir unseren Wagen hinter ihm an. Und immer wieder macht er am Straßenrand dieselbe rituelle Niederwerfung. Einen Schritt nach vorn, auf die Knie sinken, die Arme auf die Erde stützen, der Körper sinkt der Länge nach auf den Asphalt und die Hände gleiten wie bei einem Schwimmer weit ausgestreckt nach vorne. Regungslos verharrt er einige Sekunden, steht dann auf, lächelt und sinkt wieder auf seine Knie.
Die wichtigsten Körperteile hat er dabei mit Leder, seine Hände zusätzlich mit einem Stück Holz vor dem rauen Boden geschützt. Freundlich lächelnd bleibt er stehen und erzählt, dass er Soba heisst und bereits seit vier Monaten unterwegs sei. Tag für Tag kommt er dabei nur eine kleine Strecke weit, egal, ob dabei die Sonne vom Himmel brennt oder die Schleusen geöffnet werden. Ein weiter Weg bis zur Erlösung liegt noch vor ihm. In einem Jahr, so schätzt der Dreissigjährige, wolle er seine Pilgerreise an seinem Ziel Lhasa erreicht haben. Wasser, Proviant und Zelt zieht seine Mutter, die ihn begleitet, in einem kleinen Handwagen weiter vorne mit sich.
Und weiter geht es, sind wir doch noch weit entfernt von unserem eigentlichen Ziel, einer Trekkingtour im Chola-Gebirge im Osttibetischen Kham in der Nähe von Dege. Dabei sind wir gerade mal vor einigen Tagen mit dem Flieger von Peking nach Chengdu, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Sichuan, geflogen. Haben unsere Seesäcke in einem kleinen Bus verstaut und freuen uns nun auf eine grandiose Landschaft mit ihren freundlichen Menschen und auf die Vielfalt der tibetischen Kultur im Zentrum der religiösen Spiritualität, wie sie sonst nirgends mehr im Land erhalten ist. Touristen gibt es so gut wie keine, war doch Osttibet lange für Ausländer gesperrt. Auch heute ist es noch ein Problem für Einzelreisende, die kein Strassenschild lesen können, ausser sie sind der Sprache und Schrift mächtig.
Im Dorf Zhuokeji sieht die Welt aus wie im Mittelalter. In den engen Gassen der Lehmhäuser wird die Wäsche in Steingefässen von Hand gewaschen, dutzende bunter Gebetsfahnen flattern im Wind und ein respekteinflössendes Yak mit seinen riesigen Hörnern und zottelig langem Fell versperrt regungslos den Weg.
In einem Holzverschlag drehen sich langsam die Gebetsmühlen, die von Dorfbewohnern in Bewegung gesetzt werden, um ihr Karma zu verbessern.
Wir sind zu Besuch bei der stolzen Bäuerin Xiong Jinhua. Sie ist 28 Jahre alt und trägt ihre 10 Monate alte Tochter in einem Tuch schlafend auf dem Rücken. Wie sie uns erzählt, lebt sie mit ihrem Mann von der Feldarbeit, wo sie Mais, Hochlandgerste, Gemüse und Reis anbauen. Alles ist sehr einfach in diesem Lehmhaus bis auf ihr Telefon, den Fernseher, ein DVD-Gerät, Tonband und eine Waschmaschine.
Weiter fahren wir Richtung Aba, einem Mikrokosmos tibetischer Religiosität im südlichen Amdo. Und dann unser erster Erdrutsch. Die unübliche, wochenlange Öffnung aller Himmelsschleusen einen Monat vor unserem Besuch, zeigt nun erste Wirkung.
So war unsere kühn in einen Steilhang gebaute Straße einfach weg. Mächtige, heruntergestürzte Felsbrocken haben sie in den tosenden Min-Fluss gerissen. Dafür müssen wir einen langen Umweg über den 4040 Meter hohen Zhegushan-Pass in Kauf nehmen.
In Aba gehört das Bön-Kloster Nangshig mit seinen siebenhundert Mönchen zum grössten
Yungdrung Bön-Kloster von ganz Tibet.
Bei einer aussergewöhnlichen Audienz erfahren wir von seiner Heiligkeit, dem zweiundzwanzigjährigen 39. Nangshig Rinpoche (höchste Wiedergeburt dieses Ordens) mit Namen Kalzung Loro Gyatsho, seinen strengen Tagesablauf. Herzhaft lachend bekennt er, dass er manchmal, wenn er abends nicht einschlafen kann, im Internet surft. Hatte bereits der junge Dalai Lhama seinen Heinrich Harrer für die Informationen von der Aussenwelt, so bedient man sich heute weltweit eines einfachen Mausklicks. Anders dagegen im Chöje-Kloster Zhong Rangtang, einem Rotmützenorden. Hier ist der verstorbene 46. Chöje Rinpoche einbalsamiert hinter Glas für Gläubige aufbewahrt. Seine persönliche Schülerin Danbi Zhun Mei erzählt davon, dass im Augenblick seines Todes in Zentraltibet, dem Stammplatz des Ordens, für eine Stunde ein Fluss aufgehört habe zu fliessen, alle Autos für drei Minuten nicht mehr hupen konnten und es ohne Regen einen riesigen Regenbogen gab.
Hinter Rangtang der nächste Erdrutsch mit einem Umweg von gut vierhundert Kilometer Schotterpiste. Dreissig Kilometer vor Danba das vorläufige Aus. Ein weiterer Erdrutsch soll uns zusätzliche zweihundert Kilometer einbringen.
Hier erreicht unser Zorn einen Höhepunkt und wir tragen mutig unser schweres Gepäck in Windeseile über die riesigen herabgefallenen Felsen und heuern auf der anderen Seite neue Fahrzeuge an.
Je weiter die beschwerliche Fahrt nach Westen führt, desto höher und dichter bewaldet werden die Berge. Gerodet werden die natürlichen Ressourcen nur noch unter strenger Aufsicht. Etliche Tierarten wie Schneeleoparden und Schwarzbären wurden unter Schutz gestellt, obwohl immer noch hinter vorgehaltener Hand zu hören ist, dass ein Leopardenfell bei einer Hochzeit die Bedeutung einer Braut hervorhebt.
Und dann ist es endlich soweit. Am Yilhun Lha Tso, einem idyllisch gelegenen Bergsee, in dem sich die schneebedeckten Fünftausender spiegeln, werden die Begleitpferde und die zotteligen Yaks mit unserem Gepäck beladen. Vorbei geht es zuerst noch an schwarzen Nomadenzelten, die sich in windgeschützte Senken schmiegen und deren Khampa-Nomaden sich um ihre Schaf- oder Yakherden kümmern. Heilige Manisteine mit ihren eingemeisselten oder aufgemalten heiligen Silben und verschieden grosse Chörten, einer tibetischen Bezeichnung für die turmartigen Stupas, säumen den Weg. Dabei atmet die Lunge tief durch, vergisst die dicken Staubwolken der Pisten, die Ohren werden frei von den Hupkonzerten der vergangenen Tage und das Auge geniesst die klare Weite. Die festgeschnürten Wanderstiefel versuchen derweil, den unzählig vielen blauen, gelben und weissen Enzianen und den Edelweissblüten auszuweichen.
Später, nach schwerem Aufstieg vorbei an staunenden Einheimischen, nach dem Zeltbau in einer Höhe von 4250 Metern, kann sich das Auge nicht sattsehen am funkelnden Sternenfirmament. Eine Sternschnuppe mit langem Schweif signalisiert Gutes. Auch am nächsten Wandertag hat jeder für sich seinen Wanderschritt hinauf zum 5000 Meter hohen Dzen La-Pass gefunden, fallen sich überglücklich und stolz die erschöpften Bergwanderer mit ihren Bleigliedern in die Arme. Fotoapparate halten den glücklichen Moment im Bild fest. Das Auge wandert von der ehrfurchtgebietenden Kargheit der Gipfel weit hinab ins grüne, unendlich weite Ting Chu-Tal und dann wieder zu den imposanten Gipfeln hinauf.
Mit jedem Schritt und Tag lassen wir weitere geisterhafte Gipfel, die sich manchmal hoch über unseren Köpfen zu schliessen scheinen, hinter uns, bis uns unsere Jeeps in Loba Shan im Jungan-Tal für die Rückreise wieder haben. Auch bei dieser Fahrt merken wir, wie bei allen anderen Fahrten, wie unendlich weit und unbesiedelt dieses wunderschöne Land mit den engen, steil bewaldeten Hängen ist. Auf dem Weg nach Chengdu besuchen wir in Dege eine der wichtigsten Druckereien in Tibet. Die hier gedruckten Ausgaben des buddhistischen Kanons geniessen auch heute noch weltweit höchstes Ansehen. Wie durch ein Wunder blieb die 276 Jahre alte Klosterdruckerei, die heute über 300.000 alte Holz-Drucktafeln zählt und in der noch heute 40 bis 50 Drucker nach alter Tradition arbeiten, als einzige ganz Tibets von den Zerstörungen der Kulturrevolution verschont, wie Jiang Sita stolz zu erzählen weiss.
Wir fahren weiter. Und irgendwann, irgendwo auf der Staubpiste taucht er dann plötzlich am Strassenrand aus dem Nichts wieder vor unserer Autoscheibe auf. Soba, unser Pilger mit den freundlich lächelnden Augen. Da ist er 6 Kilometer
pro Tag, so rechnen wir auf die Schnelle aus, voran gekommen. An seinem Ritual hat sich nichts geändert. Ein Schritt, eine Niederwerfung, ein Schritt, eine Niederwerfung. So beobachtet wird er im Autospiegel immer kleiner. Ob er wohl von der modernen tibetischen und chinesischen Jugend weiss, die in einer Disco in Aba bei stampfender und laut dröhnender Musik diese uralte, heilige rituelle Handlung auf der Tanzfläche nachäfft?
Gerd Krauskopf
Infos
Die Vielfalt der Religionen in Osttibet:
Fünf Hauptrichtungen gibt es:
Einen Gelbmützenorden, die Gelugpa = die Tugendhaften
Drei Rotmützenorden, die
Nyingmapa (gegründet.im 8. Jh.)
Kargyüpa ( gegründet im 11. Jh.)
Sakyapa (gegründet im 12. Jh.)
und den Bön-Orden (vorbuddhistische Schamanen).
Reise-Informationen:
Bei Hauser exkursionen international, Spiegelstrasse 9, D-81241 München, Tel: 089-2350060,
email:
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www.hauser-exkursionen.de, wird eine solche Tour „Osttibet Amdo/Kham – verborgene Täler und einsame Klöster“ sowie „Kham, das unbekannte Tibet: Trekking vom Yilhun Lhatso nach Dege“ zu fairen Preisen angeboten.
Einreise nach China:
Für deutsche Staatsbürger ist ein Visaum erforderlich.
Empfohlende Impfungen und Gesundheitsvorsorge:
- Tetanus-Diphterie Schutzimpfung
- Poliomyeelitis (Kinderlähmung)
- Hepatitis A Impfung(oder kombinierte Hepatitis A und B Impfung)
Sprache:
Chinesisch wird in den einzelnen Regionen in vielen Dialekten gesprochen. Im Geschäftsleben Englisch, die Amtssprache ist Chinesisch. Die Tibeter sprechen ihre eigene Sprache, Tibetisch.
Zeitunterschied:
Im Winter plus 7, im Sommer plus 6 Stunden.
Stromversorgung:
220 V mit internationalem Adapter in guten Hotels.
Währung:
Die Mitnahme von Bargeld in EURO ist empfehlenswert, Reiseschecks als Sicherheitsreserve. Nur in Banken tauschen. American Express, Eurocard und Visa werden in internationalen Hotels akzeptiert.