Norditalien

In einem anderen Land

Italien

 Auf Hemingways Spuren unterwegs in Norditalien und der Schweiz 

Von Uwe Junker 

 Auf den ersten Blick ist in Stresa am italienischen Lago Maggiore auch in Corona-Zeiten alles wie immer: Ältere, ganz offenbar wohlhabende, modisch gekleidete Herren flanieren mit viel zu jungen Begleiterinnen an der Uferpromenade, an der sich prächtige Grandhotels aus der Belle Epoque reihen, Kinder toben an Spielplätzen, Sonnenanbeter entspannen an den Badezonen, Boote bringen Besucher zu den vorgelagerten Borromäischen Inseln oder die Seilbahn transportiert sie auf den Monte Mattarone. Und alles ist in das weiche mediterrane Licht des frühen Herbstabends getaucht, das mit den Silhouetten der umliegenden Berge im Lago Maggiore spielt.ItalienEine inspirierende Atmosphäre, die auch große Literaten betörte. Den späteren Nobelpreisträger Hemingway zum Beispiel, der  wesentliche Passagen seines stark  autobiografisch geprägten Anti-Kriegsroman „In einem anderen Land“ („A Farewell to Arms“) in Stresa ansiedelt: Er lässt seine Erlebnisse als Sanitäter an der italienischen Front im Ersten Weltkrieg einfließen, wenn er über die Liebe zwischen einem in der italienischen  Armee dienenden Amerikaner und einer britischen Krankenschwester während dieses Krieges erzählt. ItalienVöllig frustriert von täglich erlebtem Grauen und Sinnlosigkeit des Krieges, beschließt der Ich-Erzähler Frederic Henry zu desertieren und findet seine geliebte Catherine in Stresa am Lago Maggiore wieder. Das Paar steigt in einem Hotel ab. Frederic kennt den Barkeeper von früher. Der bekommt heraus, dass Frederic in Stresa als Offizier bekannt ist und als Deserteur verhaftet werden soll. Er verhilft dem Paar zur Flucht über den See. Frederic rudert sich die Hände wund und erreicht nach 35 km die Schweiz bei Brissago. Viel zu rudern, ohne Frage. Doch Hemingway hat den Ort mit Bedacht gewählt; denn zwischen Stresa und Brissago liegt die kürzeste Distanz zwischen beiden Seeufern.

ItalienUnd Hemingway selbst? Der wurde in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1918 im Piavetal, Venetien, verwundet: „Ich wusste, dass ich verwundet war“, schrieb er, und ich beugte mich vornüber und fasste mit der Hand nach meinem Knie. Mein Knie war nicht da. Meine Hand ging hinein und mein Knie war unten, wo mein Schienbein war.“ Er schleppte sich ins nahe Dorf Fossalta, wird dann in ein Krankenhaus in Mailand verlegt. Später stieg gerne im „Grand Hotel des Iles Borromées“ ab. Bei meinem Besuch 2012 zeigte mir der Barkeeper dort stolz einige Fotos des Nobelpreisträgers. Auf einem Bild rudert er vor dem Hotel auf  dem See in Gesellschaft  einer seiner vier Ehefrauen – die Beiden erinnern unvermittelt an die beiden Protagonisten seines Romans.Italien

Damals kostete ich einen „Martini Hemingway“ - nach den Wünschen des Autors gemixt. Den will ich mit meiner Frau nun auch genießen – aber hier unterbricht dass das Coronavirus jäh unsere literarische Spurensuche: Vor die Front des traditionsreichen Hauses ist eine große italienische Flagge gespannt, auf der zu lesen ist, dass man sich auf Gäste ab Mai 2021 wieder freueAuch das benachbarte Grand Hotel Bristol ist wegen zu weniger Buchungen geschlossen. 

Wir lassen uns den Abend nicht verderben und ziehen weiter: Zum Rathaus gegenüber dem Fähranleger und über die Fußgängerzone „Via Mazzini“ zur zentralen „Piazza Cardona“: pralles Leben, appetitanregende Gerüche aus den Restaurants- fast Normalzustand, wären da nicht die MaskenträgerInnen. Bei hausgemachten Ravioli und Primitivo schmieden wir Pläne für den nächsten Tag,  entscheiden uns für körperliche Betätigung in der Natur. Wer weiß schließlich, ob nicht bald die nächste Quarantänephase ins Haus steht?Italien

 Wir könnten den Romanfiguren Frederic und Catherine in die bewaldeten Berge oberhalb von Montreux folgen, wo sie sich nahe eines Dorfes in Abgeschiedenheit von ihrer Flucht erholen. Hemingway kam zum ersten Mal 1922 an die „Montreux-Riviera“, zunächst, um als Reporter für den „Toronto Star“ über die Internationale Friedenskonferenz von Lausanne zu berichten. Er lebte dann mit seiner Frau Hadley vier Monate in der „Pension de la Foret“, schrieb dort mehrere Kapitel von „In einem anderen Land“ und wurde ein passionierter Schifahrer.

TessinWir entscheiden uns aber für einen Ausflug ins Verzasca-Tal im Tessin, das als schönstes Tal der Schweiz gilt. Catherine und Frederic hätten sich wohl gefühlt in Sonogno, dem obersten Ort des Tals, der in einem zur Verzasca hin offenen Talkessel liegt. Betörend-frische Bergluft, imposanter Blick auf die umliegenden Berge, im Ortskern die für diese Gegend typischen Steinhäuser „Rustici. Vielleicht wären auch sie talabwärts auf dem „Sentierone Val Verzasca“ Tessinbis nach Lavertezzo gewandert, die zu einem Bad einladende grün-blau schillernde Verzasca immer ganz nah. Wären wie wir überrascht worden von Kühle und Stärke ihrer Strömung, hätten sich wie so manches Liebespaar in felsige Geborgenheit zurückgezogen. Oder hätten gar die verschwiegene Gemeinschaft jener 17 Bürger in Corippo gesucht, der kleinsten, politisch selbstständigen Gemeinde der Schweiz: kein einziges neues Haus, ein terrassenförmig am Berg klebendes stilles Dorf.Tessin Nach ruhigen Tagen am Lago Maggiore wagen wir uns nach Mailand. Elena, unsere Fremdenführerin, treffen wir an der Kirche „Santa Maria delle Grazie“, in deren Refektorium wir uns Leonardo da Vincis „Letztes Abendmahl“ ansehen wollen, vielleicht die Touristenattraktion Italiender lombardischen Metropole neben ihrem Dom. „In normalen Zeiten müsstet ihr hier mit euren Tickets mindestens eine Stunde Schlange stehen. Jetzt können wir als nächste Gruppe in 10 Minuten ins Refektorium, beim Eingang wird noch Fieber gemessen.“ Von 220 Hotels in der ItalienStadt seien nur 24 geöffnet, Touristen hätten immer noch Angst zu kommen, die Fernsehbilder der vielen Corona-Toten seien unvergessen, erklärt Elena. Wir wandern mit ihr Masken-bewehrt  über die Piazza Cordona, wo eine riesige Nähnadel Mailands internationales Renommee als Modemetropole symbolisiert, weiter zum Sforza-Palast. Dessen sonst drangvolle Innenhöfe sind in dieser besonderen Zeit still und menschenleer, ins dortige Museum kommen wir umsonst, können in Ruhe Michelangelos letztes, unvollendetes Meisterwerk, die „Pieta`Rondanini“ betrachten. Vorbei an der Scala, dem berühmtesten Opernhaus der Welt, Italiendessen Außenansicht eher schlicht anmutet, gelangen wir durch die „Galleria Vittorio Emanuele II“, dem „Salon Mailands“, schließlich zum Dom. Der bietet mit seinen Tausenden von Spitzen, Verzierungen und Skulpturen einen faszinierenden Anblick„Genießt die Stille“, fordert uns Elena auf, als sie unser Erstaunen ob der Tatsache wahrnimmt, dass wir in dem gewaltigen fünfschiffigen Innenraum fast mit ihr alleine sind. „Die Corona-Pandemie hat auch ihre guten Seiten, nun herrscht hier statt dem sonst üblichen Rummel endlich mal die Ruhe, die einer Kirche gebührt. Und die gehört übrigens nicht dem Staat, sondern den Bürgern Mailands. Dort an dem Glasfenster könnt ihr zum Beispiel links unten in der Ecke den Namen einer Bank lesen. Die hat dessen Restaurierung bezahlt“, erklärt uns Elena. 

Ob sie etwas über Hemingways Aufenthalt in einem Mailänder Krankenhaus wisse, in dem er nach seiner Verwundung behandelt worden sei, frage ich sie später beim Abschied vor dem Dom. „Ja klar, der war schwer verletzt und wurde im Hospital des „American Red Cross“ mehrere Monate behandelt, dass sich damals in einem alten Palazzo an der Via Alessandro HemingwayManzoni befand“, erzählt Elena. „Und der damals 19jährige verliebte sich Hals über Kopf in die deutlich Jahre ältere Krankenschwester Agnes von Kurowsky aus Washington. Als es Hemingway besser ging, erkundeten die Beiden Mailand, wurden zusammen beim Pferderennen in „San Siro“ gesehen. Doch nach fünf Monaten gibt Agnes dem Jungen den Laufpass, er sei noch ein Kind, sie viel zu alt für ihn. Hemingway ist wohl Italien zeitlebens so verbunden geblieben, weil das Land für ihn immer nach Agnes gerochen und geschmeckt hat, nach Liebe und nach Sehnsucht“, vermutet Elena. „Wenn ihr das nächste Mal nach Italien kommt, dann fahrt mal ins Piavetal. Dort könnt ihr auf den Spuren Hemingways wandern oder Rad fahren oder die Benediktinerabtei von Fossalta besuchen, in der er Verletzte versorgt hat, ehe er sich Richtung Front aufmachte. Dort, wo er im ersten Weltkrieg verwundet wurde, hat man ihm ein schlichtes Denkmal gesetzt, auf dem ein Zitat von ihm verewigt ist. „Io sono un ragazzo del Basso Piave“ („Ich bin ein Knabe aus der Piave-Ebene).“.

TessinUnsere jetzige Reise endet in Lausanne - wie auch die Romanze von Catherine und Frederic: Catherine ist schwanger, will sich erst nach der Geburt des gemeinsamen Kindes trauen lassen. Im März 1918 verlässt das Paar seine gemietete Hütte in den Bergen bei Montreux und steigt in einem Hotel in Lausanne nahe der Frauenklinik ab. Ein kräftiger Junge muss per Kaiserschnitt entbunden, kommt tot zur Welt, Catherine stirbt an inneren Blutungen. Hemingway, der als 30jähriger mit „In einem anderen Land“ seinen schriftstellerischen Weltruhm begründete, lässt seinen Ich-Erzähler resümieren: „Die Welt zerbricht jeden (…), die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie.“Tessin

Weitere Informationen:

Klima und Reisezeit: Generell sind die Temperaturen am Lago Maggiore ganzjährig mild. Denn die Berge halten die kalten Nordwinde ab und die großen Wassermassen wirken zusätzlich ausgleichend. Wasser- / Lufttemperaturen: März bis Mai 10-16 / 15-23 Grad C. Juni bis August-20-26 / 22-32 Grad C. September 17-22 / 20-28 Grad C. Oktober-November 10-15 / 10-20 Grad C. Im September teils heftige und langanhaltende Regenfälle, der Oktober ist deutlich trockener.

Saisonbeginn zu Ostern, üppige subtropische Blüte im April und Mai, stabile Windverhältnisse für Windsurfer. Mai bis Mitte Juni sind ideale Zeiten für Aktivurlauber und Kulturreisende. Zweite Julihälfte und die ersten drei Augustwochen besser meiden: Überfüllte Badeorte und bis auf den letzten Platz belegte Campingplätze, Staus auf den Uferstraßen, volle Restaurants.

Anreise: per Flug (z. B. nach Mailand), Bahn oder eigenem PKW (ganzjährig befahrbar nur die beiden Autobahnstecken durch den St.-Gotthard- und den San-Bernardino-Tunnel, Passstraßen zwischen November und April geschlossen) 

Ausflug nach Mailand: Mit dem PKW: Park & Ride , möglichst nicht mit dem eigenen Auto in die Innenstadt fahren: dichter Verkehr, Staus, enge Parkhäuser. Anzeigetafeln an den großen Einfahrtstraßen beachten, die auf die nächst gelegenen Parkplätze an U-Bahnstationen und die noch freien Stellplätze hinweisen. Mit der Bahn: An der „Stazione Garibaldi“ kommen die Regionalzüge Züge vom Lago Maggiore an (Fahrtdauer 1 Std., 52 Minuten, an der Messe umsteigen in die U-Bahnen M1 und später M2 bis zum Domplatz ). Per EC erreicht man die „Stazione Centrale“, fertiggestellt 1931 in monumentaler Fachistenarchitektur. Von dort weiter mit der U-Bahn M3 zum Domplatz. Stadtführungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten vorab per Internet z. B. über Viator / Tripadvisor zu buchen empfiehlt sich: Man sieht viel in begrenzter Zeit und die FührerInnen sind hinsichtlich der häufig wechselnden Regelungen in Zeiten der anhalten COVID-19-Pandemie auf dem aktuellen Stand.

Corona-Infos: Die kostenfreie App „gut.beraten.reisen.“ des CRM (Centrum für Reisemedizin) wird ständig aktualisiert und informiert über die wechselnden Bestimmungen vor Ort (Risikogebiet?, Testpflicht vor Einreise? u.v.m.)