Hallstätter See

Tief im Herzen ewiger Finsternis

Beinhaus Hallstatt Gerade ist das kleine Linienboot über den Hallstätter See gekommen und hat zwei Gäste von der Bahnstation auf der gegenüberliegenden Seeseite hier nach Hallstatt hinüber gebracht.

Unmerklich langsam ziehen jetzt dichte Nebelschwaden an diesem eiskalten Wintertag auf und legen ein weiches Tuch über den kältesten, südlichsten See des oberösterreichischen Salzkammergutes.

Derweil wendet sich mein Blick von der trüben Seeseite ab auf die alten, eng an den Berg geschmiegten kleinen Bürgerhäuser und wandert hoch hinauf zum mächtigen Bau der katholischen Kirche, die auf einem Bergvorsprung über allem thront. Dahinter ragt nur noch drohend senkrechter Fels.Österreich, Hallstadt

Nach und nach dringt warmer Schein aus den kleinen Fenstern der hübschen alten Häuser und lässt die kleinen Eiskristalle des weichen Pulverschnees matt glitzern.

Ich stapfe durch den knirschend frischen Pulverschnee los. Reinhard Kerschbaumer, mit dem ich mich hier verabredet habe, will mir den Ort zeigen, an dem seine Hallstätter die ersten 10 bis 15 Jahre ihrer Ewigkeit verbringen, bevor sie ihre letzte Ruhe im Beinhaus, dem Karner, finden.Hallstatt-im-Salzkammergut-OEsterreich-1.jpg

Zuerst aber kommen wir durch die engen Häuserzeilen am kleinen Mühlbach vorbei, dessen Ränder dick mit Eis verkrustet sind. „Dort oben,“ da zeigt er mit seiner ausgestreckten Hand in eine enge Felsspalte, „sehen sie neben dem zugefrorenen Wasserfall die beiden Häuser, das sind die ehemaligen Getreidemühlen von Hallstatt. Sie werden vom Wasser des Mühlbachs gespeist.Österreich, Hallstatt

 Da haben sie in früheren Zeiten das Getreide hinauf schleppen müssen, das sie in weiter Ferne gegen das hier im tiefen Berg gebrochene Salz eingetauscht haben.“


Kerschbaumer weist mir jetzt den engen Weg nach rechts zur „bedeckten Stiege“. So heißt im Volksmund die überdachte Treppe, die steil hinauf zur katholischen Kirche, dem kleinen Friedhof und der Michaelskapelle mit Beinhaus führt.Österreich, Hallstatt

Stufe für Stufe geht’s nun weiter hinauf und wir erreichen das mächtige Kirchenschiff. Andächtig betreten wir den Kirchenraum durch das aus rotem Salzburger Marmor bestehende Kirchenportal. Von dort sind es nur ein paar leise Schritte zum Hauptraum, und wir stehen in einer zweischiffigen, großräumigen Hallenkirche mit zwei Flügelaltären.

Während wir langsam hinaus schreiten, flüstert mir Reinhard Kerschbaumer ins Ohr, dass er hier im Jahre 1958 als Ministrant begonnen hat. Und dann, wir stehen mittlerweile auf demÖsterreich, Hallstatt

kleinen Friedhof, dessen mächtig hohe Mauer einer Aufschüttung für die Gräber standhält, werfen wir noch einen kurzen Blick hinunter zum See, der jetzt vom Nebel befreit ist. Schreiten dann langsam vorbei an vielen Holz- und schmiedeeisernen Kreuzen auf die Michaelskapelle zu. Diese gotische Friedhofskapelle ist direkt an die lotrecht aufsteigende Felswand gebaut und beherbergt tief unten in ihrem Innersten einen Gewölbekeller aus dem Jahre 1600, der als letzte Beisetzungsstätte für die hier auf dem Friedhof ausgegrabenen Gebeine dient.

Auf diesem Friedhof, so erfahre ich, liegen katholische und evangelische Hallstätter gemeinsam begraben. Zwar getrennt voneinander, aber auf dem gleichen Friedhof.
Denn in Hallstatt ist Platz rar. Für die 940 Bewohner ist kaum Grund und für die Toten schon gar kein Platz für die Ewigkeit vorhanden.

So werden nach zehn bis fünfzehn Jahren alle wieder ausgegraben und die Gebeine ins Beinhaus gebracht, wo sie dann nicht mehr nach Konfession getrennt, fein säuberlich nebeneinander liegen.Österreich, Hallstatt

Bevor wir ins Beinhaus eintreten, zeigt Kerschbaumer über alle Kreuze hinweg mit ausgestreckter Hand auf ein kleines Haus und erklärt mir, dass dort die Totengräber im Laufe der Jahrhunderte gewohnt haben.

„Hoch oben, sehen sie das kleine Brett unter dem Dach, dort haben die Totengräber die ausgegrabenen Schädel für einige Wochen der Sonne und dem Mond ausgesetzt, damit sie eine Elfenbeinfarbe annehmen konnten.“Österreich, Hallstatt

In diesem Moment merke ich plötzlich, wie mir der Ostwind scharf ins Gesicht bläst. So wenden wir uns dem schmiedeeisernen Tor dieser Grabkammer zu.

Nachdem der Schlüssel das Tor freigegeben hat, öffnen wir die dahinter befindliche, zweiflügelige Türe, die mit leisem Knirschen auseinander geht. Wir treten bedächtig ein inÖsterreich, Hallstatt

einen kleinen, schlicht aus grauem Beton gegossenen Gewölbekeller. Leise schließen wir die Türe hinter uns und betätigen den Lichtschalter. Zwei Lampen hinter uns über der Eingangstüre werfen jetzt ein schwaches Licht auf die vor den drei Wänden fein säuberlich vom Boden aus gestapelten, unzähligen Schienbeine, Arm- und Hüftknochen. In Tischhöhe hat man Bohlen auf sie gelegt, die den Schädeln Platz geben. „1200“ wird mir ins Ohr geflüstert. „610 von ihnen bemalt.“Österreich, Hallstatt

Vor uns an der Stirnwand blicke ich jetzt auf ein großes Kruzifix. Rechts und links daneben zwei mächtige Bibeln, auf denen Köpfe liegen. Das, so erfahre ich, sind die Schädel von Priestern.

Hinter allem hängt an dieser Wand ein kupferfarbener Spiegel, in dem sich die geschichteten Totenschädel und die Knochen spiegeln.

Jetzt, mitten im Herzen ewiger Finsternis, brauche ich erst einmal eine Zeit für mich ganz allein.

Nach langem Schweigen und der absoluten Ruhe, wird mir in diesem Moment meine eigene Bedeutungslosigkeit bewusst. Mich fröstelt. Ich höre meinen eigenen Atem.
Nur langsam schaue ich in die Runde, studiere die Todestage und blicke auf Schädel, die mit Eichenlaub, Lorbeer, Efeu und Rosen bemalt sind.Österreich, Hallstatt

Eichenlaub, so sagt man mir, sei bei diesem Toten ein Zeichen seines Ruhmes gewesen, bei Lorbeer das des Sieges, Efeu sei Zeichen des Lebens und Rosen auf den Schädeln dokumentieren Zeichen der Liebe bei diesen Verstorbenen.

Ob noch heute die Hallstätter auf diese Weise ihre letzte Ruhe finden, möchte ich gerne wissen. Als Antwort bekomme ich leise zugeflüstert: „1995 wurde zum letzten Mal hier ein Kopf ins Beinhaus gegeben. Sollte heute jemand, der hier am Ort ansässig ist, ins Beinhaus wollen, und er hat es testamentarisch schon festgelegt, dann besteht auch jetzt noch die Möglichkeit, dass er hier seine letzte Ruhe findet.“

„Dieser Kopf hier von unserer Pepi, der lieben Josephine Eder,“ er zeigt auf einen dunklen Schädel, „der so ausgedunkelt ist, wurde uns vor vielen Jahren gestohlen und im vergangenen Oktober gut verpackt wieder vor die Türe gelegt. Vermutlich hat er auf einem Schreibtisch gestanden und sehr viel Rauch ab bekommen.“

Österreich, Hallstatt

Während er durch die Reihen der Schädel blickt, stockt er plötzlich und sagt: „ Dieser Kopf hier gehört Johann Bojanovsky. Das war unser ehemaliger Rauchfangkehrermeister. Diesen kannte ich besonders gut. Über ihn gibt es ganze Episoden. So hatte er seinen Kehrbezirk hier in Hallstatt und drüben in Obertraun gehabt. Und wenn er hier die Kamine kehren musste, dann kam er mit dem Zug. Da durfte er sich nie in seinem Rußgewand ins Personenabteil setzen, sondern musste immer in den Paketwagen steigen, damit er mit seinem rußgeschwärzten Gewand nicht alles verschmutzt.“Österreich, Hallstatt Wie mir dann dieser Schädel auffällt, der als einziger ein dickes Loch auf der Schädeldecke aufweist, bekomme ich leider keine Antwort darauf.


Andächtig verlassen wir diesen Ort. Der Hallstätter See liegt friedlich tief unter uns und spiegelt die mächtigen Berge des Dachsteingebirges.Hallstaetter-See-2.jpg

Später treffe ich auf dem Rückweg noch Traudl Gamsjäger, die vor 61 Jahren als junges Mädchen nach Hallstatt gekommen ist und fast alle hier kennt. Wir setzen uns in eine wohlig warme Café Bar des Hauses Kainz und wärmen unsere kalten Hände am warmen Teeglas.

Während wir den Tee vorsichtig schlürfen, erzählt sie mir vom alten Totengräber Thalhammer, den sie noch gut gekannt hat. Der hat wie alle vor ihm auch im Totengräberhaus gewohnt. Und als der gestorben war, hat man ihn ebenfalls nach ca. 15 Jahren ausgegraben. „Und das weiß ich bis heute noch, da haben wir Kirchenprobe gehabt und ich bin nach hinten gegangen. Der Totengräber, das war damals der Zian August, der heute auch schon tot ist. Der hat stundenlang mit Hacke, Schaufel und Brecheisen gegraben. Wie er ihn dann freigelegt hatte, da hatte der vorne noch 2 Zähne und ein kleines Büschel Haare.“

Seinen Schädel haben sie dann wie alle vor ihm ausgekocht. „Das,“ so sagt sie wie selbstverständlich, „ist eigentlich die beste Methode, das ist am saubersten“.

Und dann redet sie von dem kürzlich verstorbenen Franz Derbl. „Wenn der ausgegraben wird, hat er verfügt, dass sein Totenschädel ins Beinhaus kommt. Und der hat sogar eine Versicherung abgeschlossen, wenn sie seinen Totenschädel stehlen sollten. Dann bekommen seine Nachkommen von der Versicherung einen netten Batzen Geld“.

„Damit sie auch sehen, wie gesättigt unsere Erde schon ist von den Toten,“ erzählt sie mit ernster Miene, „hätte man die Erde auswechseln müssen. Da verwest teilweise nichts mehr.“

„Vergangenes Jahr,“ fügt sie weiter an, „ist Frau Hach gestorben. Sie wollte in einem bestimmten Grab begraben werden. Und in diesem Grab hat eine Frau 20 Jahre lang gelegen. Wie sie das Grab geöffnet haben, da war alles noch da. Die ganzen Kleider, es war nichts verwest.“ Dann schaut sie mich mit großen Augen an, hebt den Finger und sagt betont: „nach 20 Jahren“.

Die Konsequenz daraus war, dass sie das Grab wieder schließen mussten und die Frau, die dort beerdigt werden wollte, musste verbrannt werden.Hallstaetter-See-3.jpg

Wie wir dann beide schweigend nebeneinander sitzen, ist der Tee ausgetrunken und draußen liegt pechschwarz der Abendhimmel über dem friedlichen Hallstätter See.

Gerd Krauskopf

 

 

Weitere Informationen: 

Besuch des Beinhauses in der Michaelskapelle in Hallstatt, Kirchenweg 40, Tel: 0043/6134 8279, geöffnet: Juni-Aug. 10-18. Mai und Sep. 10-17, Okt. 10-16 Uhr. Im Winter Besichtigung möglich, aber kein Zutritt.