Valle Leventina

Auf der Spur der Steine

Tessin

Das Valle Leventina ist traditionell Transitland auf dem Weg nach Italien. Dabei lohnt sich ein Zwischenstopp. Abseits der hektischen Gotthard-Autobahn offenbart das Tessiner Alpental seine afrikanischen Wurzeln - und das nicht nur im Käse-Aroma.

Von Marco Wehr

 „Sehen Sie, wie das Christuskind die drei Finger in die Höhe spreizt?“ Elena Traversi zeigt auf die Fassadenmalereien in der beschaulichen Altstadt von Giornico. „Diese Geste steht symbolisch für die drei Urkantone Unterwalden, Schwyz und Uri“ erklärt die Stadtführerin und fügt an: „Die Leventina wurde über 300 Jahre aus dem Norden regiert - und das drückt sich noch immer in der Kunst im öffentlichen Raum aus.“Tessin

 Die knapp 900-Einwohner-Gemeinde Giornico ist umgeben von Weinbergen und Kastanienwäldern. Malerisch schlängelt sich der Alpenfluss Ticino durch das beliebte Ausflugsziel. Die Häuser wirken trutzig wie dunkle kleine Burgen aus Granit. Giornico ist für seine stattliche Zahl von sieben romanischen Kirchen bekannt, seine Ufer waren aber auch Schauplatz einer bedeutenden Schlacht, die wegweisend für das Valle Leventina sein sollte.

 Am 28. November 1478 besiegte eine zahlenmäßig weit unterlegene Truppe aus dem Kanton Uri und ihre Leventiner Verbündeten eine riesige Streitmacht des Herzogs von Mailand. „Seitdem hatten die Urner hier das Sagen und regierten das Obere Tessin mit Landvögten. Ihr markantes Stierwappen sieht man heute noch auf vielen Häusern und Kirchen“, erzählt Traversi. Sahen viele Leventiner anfänglich das Bündnis mit den Eidgenossen noch als nützliche Sache an, schließlich profitierten beide von der Vertreibung der Milanesi und der 

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Kontrolle des Handelswegs Gotthardpass, änderte sich das im Laufe der Jahrhunderte. Aus der Schutz- wurde eine Besatzungsmacht. Die Urner hätten mit harter Hand regiert und wären von der Bevölkerung spätestens seit dem 17. Jahrhundert immer mehr als Fremdherrscher wahrgenommen worden, berichtet sie. Als 1755 bei einem Putsch der Urner Landvogt von den Leventinern inhaftiert wurde, schlugen die Eidgenossen zurück. Drei Rädelsführer des Aufstands wurden hingerichtet. Das Trio verlor nicht nur den Kopf, die Leventina auch weitgehend seine Rechte. Erst Napoleon Bonaparte beendete 1803 die Fremdherrschaft. Seitdem gehört dieser Teil der Alpen zum damals neu gegründeten Kanton Tessin und ist vollwertiger Teil der Schweizer Eidgenossenschaft.

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Auch wenn heute in der Leventina keine blutigen Schlachten mehr geschlagen werden, an der Bedeutung für den transalpinen Verkehr hat sich nichts geändert. Im Gegenteil - Seit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels benötigt der Eurocity von Zürich in Tessins Hauptstadt Bellinzona nur noch gut eindreiviertel Stunden - ohne Zwischenhalt im Valle Leventina. Das führt dazu, dass das knapp 40 Kilometer lange Tal zwischen Aiorolo und Biasca Tessinmit seinen stillen Seitentälern von Reisenden noch immer viel zu häufig links liegen gelassen wird. Dabei lohnt sich gerade für Wanderer im Herbst ein Abstecher, zum Beispiel ins abgelegene Pioratal.

 Das Val Piora erreicht man am schnellsten mit dem „Ritom“. Die Fahrt mit einer der steilsten Zahnradbahnen der Welt beginnt in der Talstation Piotta und dauert zwölf Minuten. Beinahe senkrecht wie ein Fahrstuhl überwindet das rote Gefährt die fast 800 Meter hinauf bis zur Bergstation Piora bei einem Gefälle von exakt 87,8 Prozent. Ist der Ausblick hinab auf das  

TessinValle Leventina aus der Gondel heraus schon schwindelerregend, betritt man nach dem Ausstieg eine nahezu unberührte Bergwelt der Alpe di Piora. Mit ihren 20 kristallklaren Bergseen und ihrem Hauptsee Lago Ritom ist das Hochtal nicht nur ein Paradies für Wanderer, sondern auch ein Pilgerort für Biologen aus aller Welt.

Weiße Murmeltiere, Blaukehlchen, aber auch fleischfressende Pflanzen: Der Reichtum an seltenen Tieren und Gewächsen ist groß und warum das so ist, erfahren Besucher im Zentrum für Alpine Biologie beim kleinen Dorf Cadagno. „Vor gut 80 Millionen Jahren wanderte die Tessinafrikanische Kontinentalplatte nach Norden und stieß auf die europäische Platte. Erstere bestand aus kalkhaltigem Dolomitgestein, während das europäische „Urgestein“ aus hartem Granit war“, erzählt Mikrobiologe Samuele Roman. „Dieses geologische Nebeneinander können wir hier im Val Piora auf engstem Raum feststellen“, berichtet Roman. Das tektonische Phänomen habe auch große Auswirkungen auf die Biodiversität, so der Wissenschaftler. Da die beiden Gesteinsarten unterschiedlich beschaffen seien, würden sich auch die ganz verschiedene Pflanzenarten auf ihnen bilden - und das in unmittelbarer Nachbarschaft. Das Resultat dieses einmaligen Ökosystems schmeckt man gleich nebenan in der Käserei Alpe TessinPiora. „Bei uns ist kein Käse wie der andere“, ist Davide Cominotti überzeugt. Das Geheimnis des gefragten „Formaggio d'alpe“? „Unsere Kühe grasen den ganzen Sommer hier auf der Alm und fressen dabei die unterschiedlichsten Kräuter, darunter Spitzwegerich und die verschiedensten Kleearten. Mal stehen sie dabei mit ihren Beinen in Europa auf Granit, mal ein paar Meter weiter in Afrika auf Dolomit, und man weiß nie im voraus, wie sich das auf den Geschmack der Milch auswirkt“, lacht der Dreiunddreißigjährige, der sich als gelernter Käser bestens auskennt.

TessinDoch das große Ziel für die meisten Besucher im Val Piora ist nicht würziger Bergkäse, sondern der Pizzo Föisc. Hier auf 2.208 Metern und bei der Berghütte Rifugio Föisc eröffnet sich noch einmal ein atemberaubender Panoramablick auf die Leventina. Der Verkehr unten im Tal ist weit weg und in diesem Moment ist es gut zu wissen, dass es nur ein Dutzend Minuten und ein kleines bisschen Afrika braucht, um dem ganzen Trubel unten zu entkommen.

Weitere Informationen:

Anfahrt

Airolo ist der Ausgangspunkt für das Valle Leventina und mit der Bahn von Zürich oder Luzern in gut zwei Stunden erreichbar. Mit dem Auto von Basel über die A2 via Luzern beträgt die Strecke circa 185 Kilometer.

Infos

Tourismusinformation Bellinzonese e Alto Ticino Turismo, Via della Stazione 22, CH-6780 Airolo, Tel. 0041/91/8691533, www.bellinzonese-altoticino.ch

Corona

Für das Tessin gilt derzeit keine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Aktuelle Informationen über die Corona-Situation im Land veröffentlicht das Schweizer Bundesamt für Gesundheit unter www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov.html

Ticino Ticket

Wer bei einem Partnerbetrieb des Ticino Ticket übernachtet, kann kostenlos alle öffentlichen Verkehrsmittel im Kanton benutzen. Zusätzlich gibt es Rabatte bei Bergbahnen, Schifffahrten im Schweizer Seenbecken und anderen Attraktionen.

Infos unter www.ticino.ch/de/ticket.html

Ritom-Bahn

Das Pioratal erreicht man entweder zu Fuß über verschiedene Wanderrouten oder mit dem Auto über die kurvenreiche Via Piora. Die Seilbahn von Piota ins Val Piora fährt ein- bis zweimal in der Stunde. Die Fahrsaison endet am 18.10. Infos und Fahrplan unter www.ritom.ch/german/bahn