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Tessin: Das „Tal der Schmuggler”

Das „Tal der Schmuggler” erwacht

 

Tessin 

 Das Valle di Muggio mit seiner Handvoll stiller Dörfer, Wildpferden und handgemachtem Käse galt einst als Schmugglerhochburg. Seit der Corona-Pandemie träumt das abgeschiedene Tessiner Alpental von einem sanften Tourismus.

 

Von Marco Wehr

 

 „Zuerst waren es die Schweizer, die Kaffee und Zigaretten über das Grenzflüsschen Breggia hinüber nach Italien brachten. Im Zweiten Weltkrieg dann halfen uns die Italiener umgekehrt mit Reis, Mehl und anderen Nahrungsmitteln durch eine schwere Zeit”.  Silvio Bindella steht vor einem 3-D-Modell des Muggiotals und blickt schon von Berufswegen gerne zurück. Der gebürtige Tessiner leitet das Ethnografische Museum im pittoresken Örtchen Cabbio. Zwischen Tessin1900 bis 1945 habe sich das goldene Zeitalter des Schmuggels in der Gegend abgespielt, so der Historiker. Doch anders als heute war die Grenze während des Krieges schwer bewacht. „Viele Schmuggler bezahlten mit ihrem Leben, denn die Zöllner waren nicht zimperlich”, so Bindella. Das alles sollten die bisher noch wenigen Talbesucher im Hinterkopf haben, wenn sie heute  auf den selben Pfaden wandern, wo sich damals das Katz- und-Maus-Spiel zwischen Zöllnern und Schmugglern zugetragen hat, so Bindella.Tessin

Doch nicht nur dieses spannende Kapitel Regionalgeschichte zu bewahren, hat sich der 46-Jährige zur Aufgabe gemacht. Dazu gehört ebenso der Erhalt der typisch-bäuerlichen Architektur. Auch um endlich mehr Besucher in das Tal zu locken, das im Gegensatz zu anderen Gegenden des Tessin lange Zeit so gut wie keinen Fremdenverkehr kannte. Und das trotz einer lebendigen Tierwelt, fantastischer Panoramen und einem auch im Sommer Tessinangenehmen Klima, wenn unten am Luganersee oder am Lago Maggiore die Temperaturen in mediterrane Höhen schießen. „Wir sind zwar verkehrstechnisch gut angebunden, trotzdem verirren sich nur vereinzelt Leute hierher”, sagt Bindella. Kurioserweise könnte gerade die Corona-Pandemie für eine Umkehr sorgen.

 

Abgesehen von einem kurzen Lockdown herrschten in der Schweiz nur wenige gravierende Einschränkungen, zumal im Vergleich zu Deutschland. Nicht nur Eidgenossen haben in dieser Zeit das TessinTessin als Urlaubsziel wiederentdeckt. Denn wegen der weltweiten Reisebeschränkungen waren die meisten beliebten Urlaubsziele im Ausland nicht erreichbar. Das vergleichsweise liberale Corona-Regime war für viele anziehend in dieser Phase. Die Statistiken belegen diese Vermutung. Mit fast drei Millionen Übernachtungen war der Kanton wieder so beliebt, wie zuletzt in den 1980er Jahren. Zwar normalisierten sich nach dem Ende der Pandemie wieder die Zahlen, doch liegen sie noch immer über dem Vor-Corona-TessinZeitraum. Und auch ins Muggiotal kommen nun mehr Neugierige und staunen über ein Idyll, das fast aus der Zeit gefallen wirkt. Niemals werden die noch spärlichen Besucherzahlen die Ausmaße anderer Tessiner Regionen annehmen. Nur ein sanfter und nachhaltiger Tourismus kann alleine schon wegen der kaum vorhandenen Übernachtungsmöglichkeiten für das Muggiotal ein gangbarer Weg sein. 

 

Die Müllerin von Bruzella

Irene Petraglio steht auf einem Außenvorsprung an dem trutzigen Natursteinhaus, versteckt gelegen an einer wilden Schleife des Breggia, und zieht mit ganzer Kraft eine Metallplatte über eine Hydraulikvorrichtung nach oben. Diese hielt das gestaute Wasser aus einer Zisterne zurück, das nun durch eine steinerne Rinne herunterfließen kann, um das große eiserne Mühlrad anzutreiben. Grobes Mehl beginnt nun gemächlich in einen großen Holzbottich zu rieseln, weit entfernt vom industriellen Tempo der Massenproduktion.Tessin

 „Im Grunde funktioniert noch alles so, wie vor 500 Jahren, als die Mühle in Betrieb genommen wurde”, erzählt die Müllerin und gebürtige Deutschschweizerin, die schon seit ihrer Kindheit im „Vall da Mücc” lebt, wie die Einheimischen das enge Tal im lombardischen Dialekt nennen. Alles muss nach wie vor von Hand gemacht werden. Nur das Mühlrad besteht aus Eisen statt wie früher aus Holz als eines der wenigen Zugeständnisse an die Moderne. „Aber das dreht sich jetzt auch schon seit 1888”, fügt Petraglio an. Sie mahlt ausschließlich alte Maissorten, die eigentlich schon von modernen Saatzuchten verdrängt worden waren. Die Nachfrage sei groß, so Petraglio, besonders nach Mehl des Rosso del Ticino, einer alten roten Maissorte aus dem Tessin, die eigentümlich aussieht, aber einen besonders angenehmen Geschmack hat.

 

TessinDie 62-Jährige stellt mit ihrer Mitarbeiterin nicht nur Maismehl mit Hilfe der Wasserkraft her, sondern betreut auch seit Mitte der 1990er Jahre die Außenstelle des Ethnografischen Museums. Neben dem Schaubetrieb ist in der Mulino di Bruzella auch eine Dauerausstellung untergebracht, die erklärt, wie eine Getreidemühle funktioniert. Besonders Schulklassen empfängt sie regelmäßig und demonstriert staunenden Kindern wie Mehl ganz ohne Strom und Maschinen hergestellt wird.Tessin

 

 

Fossilien und Zement

 Noch viel mehr ins Staunen kommen Besucher einige Kilometer flussabwärts im Parco Gole della Breggia, ein Geopark und Fenster zur erdgeschichtlichen Vergangenheit des Alpenraumes. Hier hat die Breggia im Zeitraum von rund 200 Millionen Jahren eine tiefe Schlucht ins Gestein geschliffen und dabei geologische Schichten aus der Zeit freigelegt, als Tessinweite Teile Europas noch vom Meer bedeckt waren. Dabei ist deutlich eine Abfolge von verschiedenen Gesteinen zu erkennen: von Kalken aus der älteren Jura-Zeit über Flysch der Kreide-Zeit bis zu jungem Schotter. Immer wieder finden Paläonthologen auf einer Länge von Tessinanderthalb Kilometern auch Fossilien in den Felsschichten. Sie legen Zeugnis sowohl über die Artenvielfalt früherer Erdzeitalter als auch über den Klimawandel ab, wie er sich schon lange vor dem Auftretendes Homo sapiens abspielte.

 

Einer der Höhepunkte auf dem weitläufigen Gelände ist jedoch vergleichsweise jung und eine Kuriosität zugleich. Wie eine moderne Nachahmung eines römischen Tempels wirken die Ruinen des früheren Zementwerkes Sabeca, eine beeindruckende Struktur aus rohem Beton. Für die einen ein Schandfleck, für andere ein Industriedenkmal: Der riesige Komplex aus den 

Tessin1960er Jahren wurde 2003 stillgelegt und zunächst sich selbst überlassen. Einige Jahre später entschloss man sich jedoch, das Werk als Industriedenkmal zu restaurieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein didaktischer Zement-Lehrpfad führt über das Gelände, Teile des ehemaligen Werks können besichtigt werden. Darunter auch nach Anmeldung in Begleitung sachkundiger Führer ein Teil eines ehemaligen Stollens, in dem Arbeiter einst Kalkstein abbauten.

 

Alles das erscheint weit weg von der Aussichtsplattform an der „Steinernen Blume”. Der Besucherkomplex der Superlative, 2017 von Star-Architekt Mario Botta erbaut, sitzt wie eine Tessinmonumentale Krone auf dem über 1.700 Meter hohen Gipfel des Monte Generoso, ganz am anderen Ende des Valle di Muggio. Die einzelnen Bauelemente fügen sich wie Blütenblätter zu einer Blume zusammen und verleihen dem Berg ein unverwechselbares Aussehen. Von hier aus eröffnet sich ein fantastischer Rundumblick über die Alpen und bis  in die Po-Ebene – und auch eine spektakuläre Möglichkeit, das Muggiotal wieder zu verlassen.

 

TessinDirekt an der „Fiori die Pietra” fährt eine Zahnradbahn hinunter nach Capolago am Südufer des Luganersees. Der Kontrast zwischen Startpunkt und Endstation könnte nicht viel größer sein. Auf neun Kilometern durchquert die Ferrovia de Monte Generoso eine abwechslungsreiche Bilderbuchbergwelt mit Wildpferden, Gämsen, Almen und dichten Wäldern, um die Fahrgäste innerhalb weniger Minuten an das beliebte Gewässer zu bringen. Und vielleicht ist es für den einen oder anderen angesichts des mediterranen Trubels rund um den Lido ein beruhigendes Gefühl, dass das nur eine von vielen Facetten des Tessin ist. Und es nur eine kurze Bahnfahrt braucht zurück auf den Monte Generoso und ins stille Valle di Muggio, das gerade ein klein wenig erwacht.Tessin

 

Weitere Informationen:

Tourismusinformation Mendrisiotto e Basso Ceresio

Stazione FFS
Via Stefano Franscini

CH-6850 Mendrisio

Tel: 0041 91 641 30 50

www.mendrisiottoturismo.ch

Museo etnografico della Valle di Muggio

Casa Cantoni

CH-6838 Cabbio

Tel: 0041 91 690 20 38

www.mevm.ch

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