Neuseeland: Mach Dampf
Erinnerung an den dampfenden und schnaufenden Nostalgie Dampfzug „Kingston Flyer“ auf der Südinsel, dort – wo der Goldrausch ausbrach
Von Gerd Krauskopf
Ich erinnere mich an eine Fahrt mit meinem gemieteten Wohnmobil, als sei es gestern gewesen. An Corona dachte damals noch kein Mensch. Dabei befahre ich eine Straße im Irgendwo – zwischen Lumsden und Kingston, der Südinsel des geographisch isolierten Inselstaates im südlichen Pazifik. Die Landschaft ringsum hält mich gefangen mit ihrer abwechslungsreichen Schönheit inmitten steppenartiger und subtropischer Vegetation. Da gedeihen mancherorts baumartige Farne neben riesigen, bis zu 50 Meter hohen Neuseeländischen Kauri-Bäumen, deren Stammumfang einst bis zu 27 Metern reichte. Der Eindruck von Landschaft an sich scheint grenzenlos und kaum noch steigerungsfähig. Dabei gleicht die Südinsel einem langgezogenen Keil inmitten der sturmgepeitschten Tasman-See mit schneebedeckten Gipfeln, den neuseeländischen Südalpen. Und dann – einer Fata Morgana gleich – sehe ich da am Horizont dicken schwarzen Qualm, der sich langsam auf mich zubewegt.
Gleich einem Traum von Kinderherzen gedacht rollt er auf mich zu und nimmt mich spontan gefangen. Der „Kingston Flyer“, der damals regelmäßig verkehrende wahrhaftige Dampfzug; Dampfzüge, von denen es heute auf der ganzen Welt nur noch wenige mit regelmäßigem Betrieb gibt, obwohl sie eine „gute alte Zeit“ verkörpern. Eine Zeit, die in der Menschen Rückschau das Attribut „gut“ wohl immer etwas überbewertet. Gleichwohl aber gigantische Zeugen einer Zeit, die den gesamten Lebensrhythmus der Menschheit verändert hat.
Kurze Zeit später stehe ich am Haltepunkt Fairlight vor diesem fauchend schwarzen Ungeheuer und steige standesgemäß in den grünen Waggon der 2. Klasse. Während ich andächtig auf einer Holzbank platz nehme, ertönt ein schriller Pfiff. Dann Fauchen und Zischen – der Boden will wohl beben. Doch als Störung mag ich es nicht einmal empfinden. Zurückversetzt um ein weites halbes Jahrhundert – oder an einen anderen Platz versetzt, an dem die Zeit stehenblieb. Die Anfänge der vor mir liegenden Strecke gehen auf das Jahr 1864 zurück. Eine Zeit, in der man hier noch versucht hatte, mit hölzernen Schienen Geld zu sparen. Der Erfolg dieser Schienen war nicht von langer Dauer. 1871 wurde die Strecke mit Stahlschienen ausgebaut. Dreimal die Woche befuhr der Passagierschnellzug die Strecke am südlichen Ende des Lake Wakatipu zwischen Kingston und Dunedin.
Wie überall, so musste sich auch diese Eisenbahnlinie im Laufe der Zeit der Konkurrenz der Straße stellen. Von 760 Eisenbahnstationen in Neuseeland verschwanden etwa 650. Auch der „Kingston Flyer“ wurde ab 1945 durch eine Buslinie ersetzt.
Doch schon in der Mitte der 1960er Jahre erinnerte man sich teilweise mit Wehmut an die alte Dampfzeit und stellte Überlegungen an, ob die hiesige Strecke nicht wieder in Betrieb genommen werden könnte. Mit der Zeit kam der Gedanke, eine mehr oder weniger touristisch ausgelegte Eisenbahn zu betreiben. Im Jahr 1971 war es soweit. Die Reise in die Vergangenheit konnte auf übrig gebliebenen 14 Schienenkilometern beginnen. Es wird berichtet, dass einige Schafzäune zu Bruch gingen, weil die so plötzlich durch ein unbekanntes Ungetüm verschreckten Schafe die sie umgebenden Zäune einfach umgerissen hatten, um der vermeintlichen Gefahr zu entkommen.
Das nostalgische Dampfvergnügen wird im inneren des Zuges verfeinert, die alte Zeit wird noch erlebbar gemacht. Da sind sogar zu meinem Erstaunen die Wasserkräne in der Toilette zwar in bester Funktion, doch gestaltet offenbar von einem anderen Jahrhundert. Von heute allerdings ist der Service; freundliche junge Damen bieten im Salonwagen Speisen und Getränke an.
Bei dieser natürlichen Freundlichkeit kommt mir in diesem Moment John mit seinem zwölfjährigen Sohn in den Sinn. Wie ich im stockdunklen Urwald auf einem einsam gelegenen Parkplatz auf meiner Landkarte im Wagen ganz verzweifelt an einer unbeschilderten Kreuzung meinen Weg suche. Ein Wagen hält an, Vater und Sohn steigen aus und klopfen mit einem freundlichen Lächeln an mein Wagenfenster. Sofort zeigen sie mir den richtigen Weg auf der Karte und obendrein fahren sie noch gute zwanzig Kilometer vor mir her, so dass ich aus dieser Wälderfinsternis kurzerhand vor meinem gebuchten Campingplatz stehe. Erleichtert bedanke ich mich mit kühlen Getränken und erzähle von Deutschland. Erfahre dabei von John, dass es Unterschiede zwischen den europäischen Siedlern der letzten 200 Jahre – den Pākehā – und den schon Jahrhunderte früher eingewanderten braunhäutigen Maoris gibt. „Und infolge der vielen Heiraten zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Herkunft“, erzählt John stolz,„ist das Zusammenleben weniger problematisch als in vielen anderen Ländern mit einer Bevölkerung unterschiedlicher Abstammung.“
Ein kurzes Pfeifen weckt mich aus meinen Tagträumen. Beim Blick aus dem Fenster wandert beim gemütlichen Schnauben des Zuges die Landschaft an mir vorüber. Hier in der Provinz Otago, so habe ich gelesen, folgten 1861 – vor dem Bau der Eisenbahnlinie – Goldsucher mit Pferd und Wagen dem Ruf des Goldes. Hier haben sie mit Schaufel und Pfanne die Landschaft durchwühlt. Kein Mythos trieb die Menschen des 19. Jahrhunderts so sehr um wie die Jagd nach dem gelben Edelmetall. Die Aussicht, sich als „armer Schlucker“ auf den Weg zu machen und als „gemachter Mann“ mit den Taschen voller Gold zurück zu kommen, trieb die Massen an und aus allen Teilen der Welt kamen sie. Tausende suchten hier einst die Nuggets und ihr Glück. Gefunden hatten es nur wenige. Vorbei war es hier schnell. Nach dem viele alles verspielt, verzecht oder das wenige Verdiente in Bordells getragen hatten, zog die Karawane nur wenige Jahre später weiter an die Westküste der Südinsel. Von den dort lebenden Maoris kam die Kunde, dass das von den Europäern so begehrte gelbe Metall am Greenstone Creek zu finden sei. Zurück ließen sie hier nur zahllose kleine Geisterstädte, die heute verfallen an den Goldrausch erinnern.
In Kingston– der einstigenMaori-SiedlungTakerehaka – am See Wakatipu ist der Endpunkt meiner nostalgischen Reise. Für Eisenbahnenthusiasten wartet hier noch ein besonderer Leckerbissen. Die riesige Dampflok muss für die nächste Fahrt in Gegenrichtung gedreht werden. Man bedient sich hierfür einer Drehscheibe, die mit Muskelkraft bewegt werden muss. Ich schwöre alle Eide, dass die Scheibe zu klein ist für den schwarzen Giganten. Doch – bis auf den letzten Zentimeter ausgefüllt – kann die Scheibe von nur zwei Männern mit Muskelkraft gedreht werden.
Ich darf zu dem freundlichen Lokführer Russel Glendinning auf seinen Lokführerstand klettern. Russel erzählt mir, dass schon sein Großvater bei der Eisenbahn gearbeitet hatte. Gerne hatten die Kinder zugehört, wenn er von seiner Arbeit erzählte. So erinnert Russel sich daran, wie der Zug eines Tages im Schnee steckengeblieben war. Eine zweite Lokomotive wurde dann am Zugende angespannt und dann ging es mit Schwung gegen die sich auftürmenden Schneemassen. Manchmal führte dieser Rammstoß nur wenige Meter weit, dann musste der Zug ein Stück zurückfahren und erneut Anlauf nehmen, um wieder einige Meter durch die Schneewehe zu gewinnen.
Bevor nach gut einer Stunde die Rückfahrt angetreten wird, hat Russel noch einiges an seiner alten Lady zu erledigen. Ich beobachte aus dem Lokführerstand heraus, wie er mit einem kleinen Hämmerchen wichtige bewegliche Teile vorsichtig abklopft und mit seinem Ohr ganz nahe am Stahl horcht. So kann er am Klang der alten sensiblen Teile erkennen, ob sich irgend etwas verändert hat. Danach nimmt er ein Ölkännchen in die Hand und schmiert Gleitlager, Kuppellager, Stangen und alle Achsen. „Das ist wichtig,“ erzählt der Fachmann mir später, als er wieder in den Lockführerstand hinauf steigt und Kohlen sowie Frischwasser gebunkert hat, „dass die Lager nicht heiß laufen."
Während genügend Kohle in das fauchende Feuer des Kessels geschaufelt wird, ist wenig später der nötige Dampf für die Dampfmaschine im Kessel vorhanden und Russel kann den Hebel zum Start umlegen. Ich darf im Führerhaus bleiben und erfahre dabei, dass die Maschine im Jahre 1915 gebaut wurde. Sie ähnelt im Aufbau den amerikanischen „Pacific-Lokomotiven“. Fast 87 Tonnen wiegt die mächtige Zwei-Zylinder-Maschine und kann eine Geschwindigkeit von 120 km/h erreichen. Die Waggons - mit hölzernem Aufbau - stammen aus den Jahren 1909 bis 1923. Der Salonwagen diente früher einmal der neuseeländischen Regierung als Reisegefährt.
Zu bald schon ist die Fahrt zu Ende, und ich steige am Ende der Strecke um in mein angemietetes Wohnmobil. Sicher ist diese Fahrt ein Höhepunkt im Kiwiland, da hier eine grandiose Landschaft konkurriert mit einer faszinierenden alten Technik. Leider wurde der betrieb 2013 eingestellt. In 2018 fand sich ein neuer Investor, der Ende 2019 den Betrieb wieder aufnehmen wollte. Corona machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Ob der „Kingston Fleyer“ in 2021 wieder Fahrt aufnehmen kann, bleibt abzuwarten.
Weitere Informationen:
Offizielle Touristeninformationen, Neuseeland Fremdenverkehrsamt, www.newzealand.com/de/